PDF/UA-1 unter der Lupe – Teil 6: Ausgewählte Aspekte der Textverständlichkeit

Textverständlichkeit ist ein weites Feld. Das zeigen verschiedene Verständlichkeitskonzepte sowie die empirische Verständlichkeitsforschung. Aus dem komplexen Thema „Textverständlichkeit“ werden in diesem Teil der Artikelserie vier ausgewählte Aspekte näher betrachtet. Weitere werden in einzelnen Abschnitten gestreift. Wie andere Teile dieser Serie beginnt auch dieser mit einer Einführung und allgemeinen Erläuterungen. Formale Aspekte werden in den Folgekapiteln thematisiert.

Kurze Einführung in die Textverständlichkeit

In den 1920er Jahren entstanden in den USA als frühe Ergebnisse empirischer Forschung die ersten Lesbarkeitsformeln.  Sie zielen auf Analyse und Bewertung von Eigenschaften der reinen Textoberfläche. Darunter versteht man z.B. die durchschnittliche Satzlänge, die Silbenzahl und je nach verwendetem Index die Anzahl seltener Wörter. Abgeleitet wurden Indizes zur Verständlichkeit. Laut Wikipedia gibt es für die englische Sprache heute über 200 Verfahren und für einige Übertragungen auf andere Sprachen. Zwei bekannte Indizes sind der Flesch-Reading-Ease und der Flesch-Kincaid-Grade-Level. Der Flesch-Reading-Ease wurde von Toni Amstad für die deutsche Sprache übertragen.

Verständlichkeitsforschung umfasst heute mehr als das Anwenden von Formeln.  In Deutschland wurde mit dem Hamburger Verständlichkeitskonzept (1968-1974) eine Erweiterung der Textanalyse entwickelt, mit den Dimensionen:

  • Einfachheit,
  • Gliederung/Ordnung,
  • Kürze/Prägnanz und
  • Stimulanz („Auslösung persönlicher Anteilnahme und Anregung“ (Wikipedia)).

Norbert Groeben geht in seinem Verständlichkeitskonzept (1982) über die reine Textanalyse hinaus und bezieht etwa Textverständnis (Leser) und Textverständlichkeit (Text) ein.

Im Karlsruher Verständlichkeitskonzept von Susanne Göpferich wurde der kommunikative Aspekt weiter herausgestellt. Sie orientierte sich am Hamburger Verständlichkeitskonzepts und – ich kürze hier sehr ab – erweiterte es um Korrektheit, Perzipierbarkeit, kommunikative Aspekte u.a.m.  Dabei umfasst „Perzibierbarkeit“ die Leserlichkeit (u.a. Blocksatz, Flattersatz, Farben, Schriftarten) sowie die Unterstützung von Lesern  u.a. durch Aufzählungen und Bilder. Leserlichkeit ist neben Lesbarkeit auch unabhängig von einem spezifischen Modell relevant und beeinflusst die Lesegeschwindigkeit.

Nicht nur in Deutschland wurden Verständlichkeitskonzepte ganzheitlicher. Lesekompetenz, Interaktion zwischen Text und Leser, Vorwissen und natürlich weiterhin Lesbarkeit und Leserlichkeit spielen mit unterschiedlicher Gewichtung heute eine Rolle.

Soll Textverständlichkeit in einem Standard zur Barrierefreiheit enthalten sein und das muss sie, dann lassen sich nicht alle Aspekte moderner Verständlichkeitskonzepte integrieren. Denn Standards zur Barrierefreiheit müssen testbar sein. Das Vorwissen von Lesern etwa entzieht sich – außer allenfalls in sehr kontrollierten Umgebungen – der Testbarkeit. Auch können wahrscheinlich keine testbaren Kriterien entwickelt werden, die gleichermaßen auf alle Textgenres (Belletristik, Sach- und Fachtexte usw.) anwendbar wären. Und es gibt einen weiteren wichtigen Aspekt: Verständlichkeitskonzepte zielen meist auf die Allgemeinheit. Von Standards zur Barrierefreiheit kann die Allgemeinheit profitieren. Sie ist aber nicht der Ausgangspunkt.

Vier ausgewählte Aspekte der Textverständlichkeit

Von den zahlreichen Aspekten der Textverständlichkeit werden hier nur vier ausführlicher behandelt. Dabei handelt es sich um vier Aspekte, die auch in den Web Content Accessibility Guidelines 2.0 (WCAG 2.0) genannt werden, wenngleich nur auf Stufe AAA. Tatsächlich können aber beispielsweise Kontraste und der Umgang mit Überschriften und Beschriftungen auch vor dem Hintergrund der Textverständlichkeit gesehen werden.

Ungewöhnliche Wörter

Wann ein Wort „ungewöhnlich“ ist und wann nicht kann kulturspezifisch sein, vom Alter abhängen, vom Zeitgeist und der technischen Entwicklung – um nur vier Faktoren zu nennen. Das betrifft nicht nur Wörter und Begriffe wie „Münzfernsprecher“, „Kesselflicker“, „Bauchladen“, sondern auch Metaphern und Redewendungen. Warum eigentlich genau eine alte Frau kein D-Zug ist, ist Jüngeren heute evtl. schleierhaft, war es aber möglicherweise Menschen aus anderen Kulturen schon bevor D-Züge durch Intercitys ersetzt wurden. Redewendungen, Sprichwörter und Metaphern lassen sich oft nur begrenzt übersetzen. Auch eine gemeinsame Sprache garantiert nicht automatisch, dass deren Sinn verstanden wird.

Ein Bild sagt mehr als Tausend Worte, aber nicht jedem. Bildhafte Sprache macht für die einen Texte interessanter; für andere kann sie das Gegenteil bewirken und ohne Erklärungen Texte sogar weniger verständlich machen. Menschen mit Lernschwierigkeiten z.B. sind schnell außen vor.

Selbstverständlich ist der Aspekt „Ungewöhnliche Wörter“ im Kontext verschiedener Textgenres und des Themas zu sehen. Die WCAG 2.0 geben im Glossar ein Beispiel: Das Wort „gig“ bedeutet in einer Diskussion über Konzerte etwas anderes, als in einem Artikel über Computer. Der Kontext macht hier deutlich, um was es geht. In beiden Fällen handelt es sich nicht um ein Sinne dieses Standards ungewöhnliches Wort, das erläutert werden müsste.

Abkürzungen

Abkürzungen sind praktisch und hilfreich. Sie verringern die durchschnittliche Zeichenzahl und Satzlänge – Aspekte der Lesbarkeit. Sie sind jedoch nicht immer und für jeden eindeutig und verständlich. Werden sie bei der ersten Nennung aufgelöst, dann fördert das die Verständlichkeit. Unter „Auflösung“ versteht man die ausgeschriebene Form einer Abkürzung, also zum Beispiel:

  • BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) oder umgekehrt
  • Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

Besonders für Texte mit einem hohen Anteil an Abkürzungen können Verlinkungen zu Einträgen in Abkürzungsverzeichnissen oder Erläuterungen dann ein besseres Vorgehen sein.

Lese-Niveau

Das Lese-Niveau (englisch: Reading Level) bezieht sich sowohl auf den Text als auch die Lesekompetenz und zwar in Bezug auf die formale Schulbildung. Ein triviales Beispiel ist der Unterschied zwischen einem Kinderbuch und einer Vorlesung in der Uni. Studierende verstehen problemlos ein Kinderbuch; Kinder aber nicht die Mitschrift einer Vorlesung an der Uni. Auch Kindervorlesungen richten sich nicht an alle Kinder, sondern z.B. an Kinder zwischen 8 und 12 Jahren.

Vor dem Hintergrund der Barrierefreiheit stellt sich die Frage, wie das Lese-Niveau berücksichtigt werden kann und welche Stufe maßgeblich sein soll. Ein grundlegender Aspekt: Niemand kann sagen, wann ein Inhalt für jeden verständlich ist und ob das überhaupt möglich ist. Gleichzeitig sollen so viele Nutzer (z.B. mit kognitiven Behinderungen) wie möglich erreicht werden. Für die WCAG 2.0 wurde die niedrige, sekundäre Schulbildung als Bezugspunkt angelegt (7. bis 9. Schuljahr): Ein Inhalt soll nach Entfernen von Eigennamen und Titeln keine höhere Lesekompetenz voraussetzen. Möglich ist außerdem ein ergänzender Inhalt oder eine Version, die diesen Grad der Lesefähigkeit nicht voraussetzt.

Aussprache

Die Aussprache von Wörtern kann trotz gleicher Schreibweise über deren Bedeutung entscheiden. Wörter, die gleich geschrieben werden und bei unterschiedlicher Aussprache etwas anderes bedeuten, nennt man Homographen.  Ihr Anteil unterscheidet sich von Sprache zu Sprache. In der deutschen Sprache ergibt sich Aussprache und damit Bedeutung in aller Regel aus dem Kontext. Wenn wir z.B. nicht gerade einen Text über antikes Judentum lesen, dann wissen wir, dass sich „Essener“ auf die Stadt Essen bezieht.

Nützlich können Tipps zur Aussprache auch dann sein, wenn die Bedeutung klar ist. Bezüglich der BITV 2.0 hat sich quasi eingebürgert, dass sie so ausgesprochen wird: „Bit-Vau 2.0“. Nur wenige sagen W-C-A-G, sondern WICAG oder WUKAG, weiß der WCAG-Theme Song von David MacDonald aus dem Jahr 2002 humorvoll zu berichten oder besser zu besingen.

Wichtig: Hier geht es nicht um spezifische Sprachauszeichnungen für die Hauptsprache eines Inhalts oder für anderssprachige Abschnitte für Nutzer von Sprachausgaben.

Vier Aspekte der Textverständlichkeit in den WCAG 2.0

Die genannten vier Aspekte der Textverständlichkeit sind wie eingangs erwähnt in den WCAG 2.0 auf Konformitätsstufe AAA angesiedelt:

  • Ungewöhnliche Wörter (Erfolgskriterium 3.1.3),
  • Abkürzungen (Erfolgskriterium 3.1.4),
  • Lese-Niveau (Erfolgskriterium 3.1.5)
  • Aussprache (Erfolgskriterium 3.1.6).

Auf dieser höchsten Stufe gibt es insgesamt 23 Erfolgskriterien für verschiedene Aspekte der Barrierefreiheit. 

Seitens der Gesetzgeber wird meist Konformitätsstufe AA verlangt, was den Empfehlungen für Gesetze und Verordnungen des W3C (World Wide Web Consortium) entspricht. Dennoch gehören auch Erfolgskriterien der Stufe AAA zum WCAG 2.0-System. Und in Erläuterungen – etwa zu Erfolgskriterium 3.1.3 („Ungewöhnliche Wörter“) – werden Autoren aufgefordert auch auf tieferen Konformitätsstufen diese Anforderungen betroffener Nutzer nicht aus dem Auge zu verlieren. Außerdem können und sollten Erfolgskriterien der Stufe AAA in einem Accessibility-Statement erwähnt werden, wenn sie erfüllt sind. Selbst wenn man diese Konformitätsstufe nicht ganz erreicht hat. Gleiches gilt für den Übergang von Stufe A zu AA. Die Stufen der WCAG 2.0 sind sozusagen fest und offen zugleich.

Von den vier genannten Erfolgskriterien wird wohl am häufigsten das Auflösen von Abkürzungen umgesetzt. Es handelt sich hier aber um eine persönliche Einschätzung.

Hin und wieder verwenden Autoren unkonventionelle Abkürzungen, die sich mindestens auf die Usability für Screenreader-Nutzer negativ auswirken können. Die Schweizer Franken sollten daher als „CHF“ abgekürzt werden; sie werden sonst als „Freitag“ oder „Frau“ vorgelesen. Für Milliarden sollte „Mrd.“ und nicht „MRD“ verwendet werden und für Millionen nicht „MIO“. Einige weitere Fälle für die englische Sprache werden in den Erläuterungen zum Erfolgskriterium 3.1.4 genannt.

Es stellt sich die Frage, ob unkonventionelle Abkürzungen ein relevantes Problem nach Konformitätsbedingung 5 „Nicht störend“ sein könnten. Das würde sich dann auf die Bewertung eines Web-Inhalts auswirken – und zwar unabhängig davon, welche Stufe man erfüllen will oder muss? Wahrscheinlich wäre das aber eine zu starke Ausdehnung und ist zudem schwer testbar. Eine einzige unkonventionelle Abkürzung in einem Dokument mit 100 Seiten stört sicher weniger, als eine Häufung mehrerer und womöglich noch unterschiedlicher in einem Dokument mit zwei Seiten. Dennoch sollte die Verwendung konventioneller Abkürzungen in Redaktionsleitfäden enthalten sein. Es gibt zwar technische Lösungen – auch in PDF – , aber warum das Nutzern und sich nicht ersparen und von vornherein den Konventionen folgen?!

Für die drei anderen oben genannten Erfolgskriterien verweise ich auf die Links im ersten Absatz dieses Unterkapitels.

Ausgewählte Aspekte der Textverständlichkeit in der BITV 2.0

In der Barrierefreien Informationstechnik Verordnung (BITV 2.0) spielen die genannten vier Erfolgskriterien insbesondere für PDF-Dokumente in aller Regel keine Rolle. Sie wurden der Priorität 2 zugeordnet. Diese ist nach BITV 2.0 nur noch für sogenannte zentrale Einstiegs- und Navigationsangebote gefordert.

Auch wurden nicht alle vier Erfolgskriterien 1:1 übernommen. Die Bedingung 3.1.3 lautet in der BITV 2.0 „Ungebräuchliche Wörter“. Das suggeriert einen (nicht existierenden) allgemeinen Sprachgebrauch. Das Erfolgskriterium 3.1.5 „Lese-Niveau“ lautet als BITV-Bedingung:

„Für alle Inhalte ist die klarste und einfachste Sprache zu verwenden, die angemessen ist. Bei schwierigen Texten werden zusätzliche erklärende Inhalte oder grafische oder Audio-Präsentationen zur Verfügung gestellt.“

Der erste Satz ist eine Technik, die in den WCAG 2.0 zwar namentlich erwähnt wird, aber nicht zu den ausreichenden Techniken gehört. Sie entzieht sich zudem der Testbarkeit. Der zweite Satz ist eine Mischung aus drei WCAG-Techniken. Techniken jedoch sollen nach WCAG 2.0 nicht die Funktion von Erfolgskriterien einnehmen. Auch bleibt unklar, was ein „schwieriger“ Text ist.

Überlegungen zu problematischen Abkürzungen, falschen Auflösungen oder generell zum Umgang damit braucht man sich salopp gesagt auf Basis der BITV 2.0 nicht zu stellen – es sei denn, es würde sich um ein zentrales Einstiegs- und Navigationsangebot handeln. Auch wurden die Konformitätsbedingungen der WCAG 2.0 nicht in die BITV 2.0 übernommen. Natürlich kann und sollte darauf geachtet werden. Eine formale Grundlage für Evaluierungen bietet die BITV 2.0 jedoch nur letztlich nur dann, wenn es sich bei dem Testgegenstand tatsächlich um ein zentrales Einstiegs- und Navigationsangebot handeln würde. Das gilt für alle Erfolgskriterien der Stufe AAA der WCAG 2.0. Für PDF-Dokumente sowie für andere Web-Inhalte schafft die BITV 2.0 keine formalen Anreize die Barrierefreiheit weiter auszubauen. Die Stufen A und AA sind zusammengelegt und aufgrund der fixen Grenze „Typ des Webinhalts“ gibt eine letztlich fixe Grenze.

Vier Aspekte der Textverständlichkeit in PDF/UA-1

In PDF/UA-1 spielen die oben genannten Aspekte der Textverständlichkeit keine Rolle.

Kompatibilität WCAG 2.0, BITV 2.0, PDF/UA-1

Vor dem Hintergrund des gänzlich unterschiedlichen Umgangs mit diesen vier Aspekten der Textverständlichkeit und damit auch der Barrierefreiheit kann zwar natürlich ein PDF-Dokument selber konform mit den WCAG 2.0 sein. Aber die drei formalen Grundlagen selber sind nicht miteinander kompatibel. Einzig die WCAG 2.0 bietet Anreize sowie eine formale Grundlage, die für Testverfahren geeignet wäre.

Die Erfolgskriterien der Stufe AAA wurden nicht in den europäischen Standard EN 301 549 übernommen. Leider bietet damit auch der EU-Standard keine Anreize zumindest einige Anforderungen dieser Stufe zu erfüllen und natürlich auch keine formale Grundlage des Einbezugs in Testverfahren. Das bedeutet allerdings nicht, dass von einer Kompatibilität von EN 301 549 und PDF/UA-1 gesprochen werden kann. Dies wäre nur gegeben, wenn die verbliebenen Anforderungen identisch wären. Das aber ist nicht der Fall. So werden oben angerissene Anforderungen an Leserlichkeit (Kontraste) oder beispielsweise aussagekräftige Überschriften und Beschriftungen, die durchaus im Kontext von verständlicheren Inhalten gesehen werden können, im EU Standard 301 549 adressiert. Nicht aber in in PDF/UA-1.

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